Essay: Fairness aus Unternehmersicht

Für mich war Fairness im Umgang mit anderen schon immer eine leitende Idee. Ich fühle mich wohl in Beziehungen, die ich als fair empfinde und es freut mich, wenn ich wahrnehme, dass andere sich auch durch mich fair behandelt fühlen. Dieses Selbstverständnis hat ganz sicher seit jeher auch Einfluss auf mein unternehmerisches Verhalten und erstreckt sich nicht nur auf den Umgang mit Mitarbeitern, sondern selbstverständlich auch auf Kunden, Lieferanten und Unternehmerkollegen.

Nicht jeder wird meine Überzeugung teilen, dass ich der Fairness im Umgang miteinander eine Schlüsselrolle für den langfristigen geschäftlichen Erfolg zumesse. Für mich ist beispielsweise die Attraktivität als Arbeitgeber ganz entscheidend vom Grad der Fairness abhängig, mit dem sich Vorgesetzte und Mitarbeiter begegnen. In diesen Tagen, in denen wir wieder einmal um die Gunst von Bewerbern buhlen, würde ich gerne ein paar Gedanken über das Potential der Fairness bei der Unternehmensentwicklung vor Ihnen ausbreiten.

Sucht man nach einem Weg, wie man als Manager oder Unternehmer ein nach Fairness strebendes System entwickeln kann, lohnt sich ein Blick über den Tellerrand unseres Handwerks auf die Thesen von John Rawls in seinem Buch Gerechtigkeit als Fairness (dt. Ausgabe Suhrkamp Verlag, 2003). Seine Intention ist zwar, Prinzipien für eine wohlgeordnete Gesellschaft zu entwerfen, aber die Übertragung seiner spannenden Überlegungen auf den Aufbau von Unternehmen erscheint mir außerordentlich hilfreich.

Bei der Suche nach einem fairen System, das von möglichst vielen Personen im Unternehmen als solches geschätzt wird, schlägt John Rawls vor, sich einen Urzustand vorzustellen, von dem aus man seine Überlegungen beginnt. Es setzt keine große Fantasie voraus, sich den Moment der Unternehmensgründung als einen solchen Urzustand vorzustellen; bei genauerem Hinsehen kann man auch die Erschließung neuer Geschäftsfelder oder die Bildung neuer Teams für neue Aufgaben darunter fassen. Rawls schlägt vor, man möge sich von seinen Rollen und aktuellen Positionen befreien und so tun, als könne man das zukünftige System frei vereinbaren. Der Trick dabei ist, dass die an der neuen Einheit Arbeitenden erst festlegen, wie sie ausgestaltet sein soll, aber zum Zeitpunkt des Definierens sollen und dürfen sie noch nicht wissen, welche Rolle sie später darin spielen werden. Konkret heißt das, dass ein Team von Unternehmensgründern beim Entwurf einer Firmenphilosophie so herangehen muss, als wisse man noch nicht, wer von ihnen der Geschäftsführer, wer der Verkäufer und wer beispielsweise der Logistiker sein wird. Bei der Prüfung eines neuen Geschäftsfeldes könnten nicht nur die internen Rollen mit dem “Schleier des Nichtwissens” belegt sein, sondern auch, ob man für das Geschäftsfeld Mitarbeiter, Zulieferer oder Kunde sein wird. Diese Herangehensweise wird im eigenen Interesse ein faires und gerechtes System zur Folge haben – Nachteile könnten einen ja selber treffen oder einseitige Vorteile anderen zugute kommen.

Fairness als Gestaltungsprinzip setzt gleichwertige und freie Personen voraus. Sie verhandeln über die Modalitäten, die in der auf gegenseitige Vorteile bedachten Kooperation gelten sollen. Im Normalfall verfügen solche Menschen über einen wirksamen Gerechtigkeitssinn, mit Hilfe dessen sie die Regeln für die Zusammenarbeit verstehen und anwenden können. Als Unternehmer sehe ich in ihnen das Bild von Mitarbeitern als Mit-Unternehmer, von Personen auf Augenhöhe und von unternehmerischen Einheiten, die sich gegenseitig als Partner schätzen. So verstanden wird aus dem Prinzip der Fairness nicht Gleichmacherei. Mitarbeiter, wie wir sie suchen sollten, können die Fähigkeiten von Kollegen durchaus differenziert einschätzen und daraus z.B. unterschiedliche Verantwortungs- und Machtverteilungen und eine sich daraus ergebende unterschiedliche Bezahlung ableiten. Wichtig ist, dass die Entscheidungen vorher definierten, als fair betrachteten Prinzipien folgen. Verhindert werden mit diesem Ansatz aber Verschiebungen im System durch Personen oder Einheiten, die eine temporär vorhandene, überlegene Verhandlungsposition einseitig ausnutzen. Als Manager hat man immer die Chance, schon bei der Personal- wie auch Lieferanten- und Partnerwahl darauf zu achten, dass solche Menschen dem System beitreten, die integrierbare Grundüberzeugungen mitbringen. Damit startet ein System von vornherein stabil und Energie wird nicht primär auf Positions- und Verteilungskämpfe verwandt.

Die Orientierung an Fairness kann auch bei der Beantwortung der Frage helfen, wie schnell man zu welcher Firmengröße wachsen sollte. Kaufmännische Erwägungen mal außen vor gelassen, begrenzt die Fähigkeit, im Wachstum zu allen Beteiligten fair zu sein, das Tempo der Unternehmensentwicklung. Kann man das Prinzip der Fairness nicht mehr aufrechterhalten, weil man einzelnen zu viel abverlangt oder weil zu viele unterschiedliche Philosophien erst die Chance zur Bewährung aus dem Blickwinkel der bis dahin gelebten Unternehmensleitlinien haben müssen, dann wäre Raum und Zeit für ein Durchschnaufen angesagt. Die maximale Größe eines Unternehmens schließlich ist durch die Möglichkeit begrenzt, in allen Bereichen jeder Zeit aktiv für Fairness sorgen oder gegebenfalls sogar die Regeln neu formulieren zu können.

Sie werden jetzt jede Menge Fragen und “Abers” auf der Zunge haben. Gerne wäre ich auf einige von ihnen hier vorauseilend eingegangen. Die Form des “Essays” lebt aber von der Überzeugung, dass ein Essay ein Versuch bleiben darf.