Angst in Unternehmen – Tabu oder Chance?

In den Medien geistert aktuell neben Agilität, Resilienz und Komplexität auch zunehmend das Wort Angst in Diskursen und Fachartikeln über neue Beraterstrategien, Trainingskonzepte und vermeintliche Ressourcenfindung.

Für die verkrampft nach neuen Ansätzen suchende Berater-und Trainingsbranche scheint ein „richtiger“ Umgang mit menschlicher Angst ein neuer Aspekt zur weiteren Steigerung und Optimierung von Arbeitskraft zu sein. Aus Sicht von Organisationspsychologen ist Angst aber eine – mit höchster Vorsicht zu behandelnde – uns allen innewohnende Reaktion auf Zustände, die unser Überleben in bedrohlichen Situationen sichern hilft. Sie ist ein Phänomen der Alltagswelt und der Arbeitswelt, das viel mehr ist als eine aktivierbare Ressource.

Was ist Angst?

An dieser Stelle brauchen wir noch keine komplizierten Darstellungen von biochemischen Zusammenhängen unseres Gehirns der Neurowissenschaftler. Vereinfacht gesagt, lässt sich Angst sowohl als Zustand, als Emotion oder als Gefühl betrachten. Die Meinungen hierzu gehen bei den Profis auseinander. Angst ist eine Reaktion auf einen Stresszustand, ausgelöst durch uns unbekannte, uns überraschende und/oder unbequeme Situationen von außen oder auch durch innerpsychische Erfahrungen. Reale Angst bei akuten Gefahren wie Katastrophen veranlasst uns im Extremfall zu instinktiven fight or flight -Reaktionen. Von nicht-realer Angst sprechen wir, wenn unsere individuelle Konstitution zu einer sehr individuellen Reaktion auf Ereignisse in unserer Umwelt führt. Was für viele nichts Besonderes ist, ist für von nicht-realer Angst Betroffene eine bedrohliche Situation.

Ganz gleich, wie wir in den angstvollen Zustand geraten sind – er kann uns lähmen oder anfeuern, in Starre versetzen oder in uns Reserven aktivieren. Wenn wir frühzeitig erkennen, welche Ursachen unsere Angst hat, können wir mit ihr umgehen und sie vielleicht sogar steuern. Was wir auf keinen Fall wollen, ist, Angst hilf- und alternativlos ausgeliefert zu sein.

Angst als Ressource

Wir kennen alle die Situationen, in denen schon undefinierbare Arten von Unwohlsein uns daran hindern, wie gewohnt zu handeln. Angst ist aus diesem Blickwinkel eine extreme Form von Un-Wohl-Sein. Unser Gehirn sucht zunächst ungesteuert nach Lösungen und klammert sich an bekannte Muster. Der entscheidende Punkt ist nun, ob wir die Herausforderung erkennen, uns ihr stellen und offen werden für das Durchspielen diverser Strategien oder eben nicht. Nach Lösungen suchen zu können, bedeutet nichts Anderes als gelernt zu haben, neuen Anforderungen und unbekannten Herausforderungen zu begegnen und nicht gleich in eine Abwehr- und Angsthaltung oder gar in eine Starre zu verfallen, die bei zu häufigem Auftreten oder zu langer Dauer in Regression oder Depression mündet. Wer das kann, hat Angst am Anfang von Veränderungen zunächst als Signal erkennen gelernt, die hilft, sich den neuen Umweltbedingungen zu stellen und zu erkunden, ob die gewohnten Strategien zur Lösung ausreichen. Reichen sie nicht, kann man an neuen Lösungswegen arbeiten, indem man an bekannte Beziehungen und Bindungen anknüpft oder sich punktuelle Hilfe bei Coaches oder Therapeuten holt. Bei wem Offenheit dafür da ist, der kann sich sein persönliches Netzwerk bereits vor einem konkreten Anlass schaffen oder aktivieren. Schon das Gefühl, dass man im Bedarfsfall die Helfer kennt, verschiebt die Notfallschwelle.

Angst in der Arbeitswelt

Viele Manager kennen Gefühle wie Kontrollverlust, Verlustangst, Gehetztheit oder ständigen Optimierungsdruck. Mitarbeiter fürchten um ihren Arbeitsplatz, Wegrationalisierung durch Digitalisierung, spüren Konkurrenzdruck durch die vielen Selbstoptimierer um sich herum oder ständige Überforderung. Das können bewusste oder unbewusste Stresssymptome sein, die die Kreativität und Produktivität am Arbeitsplatz beeinflussen, wenn sie sie nicht sogar gänzlich lahmlegen.

Wenn solche ersten Anzeichen der Angst um oder vor nicht gewohnheitsmäßig beherrschbare Situationen nicht ernst genommen werden, zerstören sie auf lange Sicht den produktiven Arbeitsprozess. Wenn sie aber thematisiert und mit Aufmerksamkeit bedacht werden, weil sie wertungsfrei als Signal für den Zeitpunkt einer neuen Anpassung auf Umwelt-/Arbeits-Bedingungen gesehen werden, entsteht bei allen Beteiligten eine Öffnung für das Neue und die damit verbundenen Chancen zum persönlichen und organisatorischen Wachstum.

Umsichtige Verantwortliche bringen dafür die entsprechende Geisteshaltung und Achtsamkeit mit. Die Ursachen zu ergründen und daraus Strategien zu entwickeln, vermögen aber immer noch wenige. Wer es sich nicht zutraut, holt sich einen Coach oder Berater/eine Beraterin, die die Situationen systemisch analysieren und ein Konzept entwickeln, das allen Beteiligten hilft, aus den Angstsymptomen Ressourcen für neue Strategien und entsprechende Handlungen zu konzipieren.

Nur dann entwickelt Angst ein Potenzial, das – nicht mehr negativ besetzt – Manager wie Mitarbeiter beflügelt statt zu lähmen.

Wie erkennt man strukturelle Probleme?

Abgesehen von privaten schwierigen Situationen, die selbstverständlich in die Arbeitswelt mit hineinspielen, gibt es Anzeichen wie hohen Krankenstand, schlechtes Arbeitsklima, Ermüdungserscheinungen bis hin zur Arbeitsverweigerung – still oder konfrontativ -, die nicht nur den Einzelnen betreffen, sondern immer das gesamte System, sprich das Unternehmen beeinträchtigen. Sensibel die Entwicklungen zu beobachten, immer wieder mit der Außenwelt zu benchmarken und Fehlentwicklungen als Warnzeichen zu erkennen, wäre eine konstruktive Haltung. Sie würde erlauben, gemeinsam auf die verunsichernden Situationen zu schauen und nach neuen Lösungsstrategien zu suchen.

Letztlich suchen wir alle nach unserer persönlichen Mischung von Autonomie und Anerkennung durch andere. Wir haben Angst, beide zu verlieren. Eine Auseinandersetzung mit den Potenzialen, die vorhanden sind, deren Thematisierung, deren Anerkennung und deren Weiterentwicklung ist im Interesse von Mitarbeiter und Unternehmen. Angst ist dafür aber keine Ressource wie viele andere.

Vom strukturellen Problem zur persönlichen Krankheit

Egal, wie professionell wir mit Angst in unserem Umfeld umgehen und was unsere unternehmensoptimierenden Berater suggerieren – Angst hat bei einigen unserer Manager und Mitarbeiter nicht mehr den Charakter einer Reaktion auf die Herausforderungen des Alltags, sondern muss als Krankheit betrachtet und behandelt werden.

Wer auf so betroffene Kollegen mit dem Konzept von „Angst als Ressource“ losgeht, der vergeht sich an ihnen und bringt unvorhersehbares Leid über sie und ihr Umfeld. Schon allein dieser Gedanke sollte dazu führen, sich das Thema Angst im eigenen Unternehmen genauer anzusehen, bevor Berater und Optimierer eingeladen werden, die scheinbar brach liegende Ressourcen ausgraben. Im Projektmanagement kennt man dafür den Begriff „Vorstudie“ – also die Klärung von Vorbedingungen und Voraussetzungen für ein Projekt und die Definition des zu erwartenden Nutzens. Im Falle von Angst können so eine Studie nur externe Profis angehen, die unvoreingenommen und ergebnisoffen danach schauen, wer welche Ängste ein Unternehmen hat und was es bedeuten würde, ihnen zu begegnen. Nur so ist zu verhindern, dass die Suche nach der Ressource Angst mehr Schaden anrichtet als Nutzen stiftet.

Vielleicht käme bei so einem Blick von außen auf das Unternehmen auch heraus, dass das Nutzen ganz anderer Chancen viel mehr bringen würde als die Suche nach Angst als Ressource.