Interview: Wirkungsvoller managen mit Systemtheorie?

Wirkungsvoll managen mit Systemtheorie?

Ein Interview mit Matthias, Hintz, meroo consulting vom 29.3.2023

Josef Böck (JB) Herr Hintz, ich kenne Sie aus vielen Begegnungen und Gesprächen als fundierten systemischen Organisationsberater und Executive Coach. Vor ein paar Wochen habe ich einen Manager getroffen, der ein Führungstraining absolviert hat, das Systemtheoretiker für Führungskräfte entwickelt hatten. Was bedeutet „Systemtheorie“ im Kontext von Unternehmen und ihren Führungskräften?

Matthias Hintz (MH) Vielen Dank. Ich würde mich allerdings nie als systemischen Organisationsberater bezeichnen, aus zwei Gründen. Zum einen stecken hinter dem Begriff „systemisch“ unterschiedliche Herangehensweisen, sodass nicht eindeutig klar ist, was für einen Hintergrund eine systemische Beraterin oder ein Berater genau hat. Ich verwende daher lieber die von Ihnen genannte Bezeichnung „Systemtheorie“. Diese ist für mich eine sehr wichtige und wirkungsvolle „Brille“ in meiner Tätigkeit als Organisationsberater, aber nicht die einzige. Und das ist der zweite Grund. Ich begleite Unternehmen und Führungskräfte methodenübergreifend, immer vor dem Hintergrund, was in einer bestimmten Situation hilfreich ist.

Ein Grundgedanke der Systemtheorie ist: Ein soziales System ist mehr als die Summe der Menschen, die daran beteiligt sind. Stellen Sie sich etwa ein Führungs-Team auf Top-Ebene vor. Nicht selten habe ich erlebt, dass jede und jeder im jeweiligen Verantwortungsbereich bestimmte Eigenschaften an den Tag legt, etwa hochgradig unternehmerisch und gestalterisch agiert, und diese Eigenschaften nicht mehr zu sehen sind, sobald alle im Führungs-Team zusammenkommen. Was passiert da? An der Einzelnen oder dem Einzelnen allein scheint es nicht zu liegen! Die Systemtheorie hilft hier, die Eigenlogik auf Teamebene, die parallel zur „Logik“ jedes einzelnen Mitglieds läuft, zu erfassen. In gleicher Weise gilt das auch für die spezifischen Merkmale auf Organisationsebene.

JB: Wie unterscheidet sich dann zum einen ein „klassisches“ Führungskräftetraining von einem „systemtheoretisch“ geprägten?

MH: Wenn man die häufig verwendete Dreiheit von „sich selbst führen“, „andere führen“, „das Geschäft/Unternehmen führen“ heranzieht, dann unterscheidet sich ein systemtheoretisch fundiertes Seminar vor allem in den Aspekten „andere führen“ und „das Geschäft/Unternehmen“ führen. Konkret heißt das zum Beispiel:

  1. Im systemtheoretischen Sinne ist Führung etwas, das mit der Führungskraft und den Geführten zu tun hat. Führung wird als etwas verstanden, das zwischen Menschen geschieht, wo jemand führt und andere folgen. Fehlt eine Seite, dann kann Führung nicht funktionieren. Daher ist Führung nicht etwas, das nur die Führungskraft verantwortet und gestaltet, sondern alle. Dies gilt umso mehr in Teams, in denen keine Führungskraft mehr existiert, wo Führung „entpersonalisiert“ und als Funktion auf ein Team übertragen wird.
  2. Ein systemtheoretisch fundiertes Seminar orientiert sich an der Grundlinie, dass Menschen im Gegensatz zu Maschinen nicht von außen kontrolliert und verändert werden können. Daher entfallen alle Führungs-Tools, die eine mechanistische Idee von Führung innehaben. Daraus ergeben sich andere Führungsansätze.
  3. Aus der vorher genannten Aussage, wonach ein soziales System mehr ist als die Summe der Menschen, vermittelt ein systemtheoretisches Seminar Brillen für das Team- und Organisationsgeschehen. Das schafft Orientierung in der Führung von Teamprozessen und für die Gestaltung und Veränderung von Organisationen. Das zentrale Stichwort lautet daher: Ein systemtheoretisches Seminar vermittelt Orientierung in der Komplexität.

JB: Lassen Sie uns die einzelnen Punkte etwas genauer ansehen. Kann denn eine Managerin oder ein Manager überhaupt eine Organisation führen, auch wenn wir das der Einfachheit halber so sagen? Führt sie oder er nicht immer Menschen? Menschen erledigen Aufgaben, verändern Prozesse, geben Feedback, verlassen das Unternehmen, gewinnen Kunden. Die Organisation selbst tut meines Erachtens nichts, es sei denn ein Mensch tut es.

MH: Ja, das stimmt, umgangssprachlich sagt man: Ich führe ein Unternehmen. Wenn Sie auf eine exaktere Definition von Führung abzielen, dann stimme ich Ihnen zu, dass Führung im engeren Sinne, wie schon erwähnt, ein soziales Phänomen ist. Und wenn man das so annimmt, dann könnte man sagen, dass ein Manager oder eine Managerin neben der Führung von Menschen auch eine Verantwortung für die Gestaltung der Organisation hat. Menschen werden geführt, Organisationen gestaltet. Ich halte letzteres für eine extrem wichtige Aufgabe.

JB: Für mich stellt sich die Frage, worin der Mehrwert besteht, zusätzlich zur Interaktion zwischen Menschen in Organisationen die Existenz eines sozialen Systems zu definieren. Ich sehe natürlich, dass Menschen sich zu Gruppen zusammentun, um mehr zu schaffen als der oder die Einzelne das kann. Es genügt aber der gesunde Menschenverstand, ein Gefühl für andere Menschen und ein Minimum an Motivations- und Organisationspsychologie, um zu erklären, wie sich Menschen in sozialen Systemen bewegen. Menschen sind soziale Wesen und haben deshalb eine evolutionsbiologisch und -psychologisch geprägte Beziehungsfähigkeit. Diese läuft nach meiner Überzeugung nicht parallel zum System, sondern sie bestimmt das soziale Miteinander, das Sie System nennen.

MH: Die Frage, die sich mir stellt: Reicht das von Ihnen genannte Minimum an Motivations- und Organisationspsychologie aus, um wirksam in Organisationen zu agieren, sie zu „erklären“, zu gestalten und zu entwickeln — von innen als Führungskraft und von außen als Beraterin oder Berater? Wenn nein: Welche ergänzende Perspektive braucht es dann?

Meine Antwort lautet hier klar: Nein, mir reichen die Erkenntnisse etwa der Organisationspsychologie nicht aus. Das ist kein „Vorwurf“ an die Organisationspsychologie — im Wort selbst steckt ja schon die Psychologie und damit die einzelne Psyche, aus deren Perspektive diese Wissenschaft auf das Organisationsgeschehen schaut. Und diese Perspektive finde ich wertvoll. Es gibt aus meiner Sicht allerdings neben der Psychologie weitere „Brillen“, die für ein wirksames Agieren in Organisationen sehr wertvoll sind.

Organisationen sind in meinem Verständnis mehr als eine Summe von Menschen, die sich als soziale Wesen aufeinander beziehen. Organisationen organisieren Menschen vor dem Hintergrund eines Organisationszwecks. Denken Sie etwa an all die formalen Aspekte einer Organisation wie Berichtswege, Teamstrukturen, Prozesse, Rollen, Entscheidungsarchitekturen etc. Hinzu kommen die informalen Merkmale wie etwa die Unternehmenskultur. Hier gibt es unzählige Aspekte, die für das Verstehen, Gestalten und Verändern von Organisationen relevant sind – und die nicht-psychologisch sind!

JB: Sie haben gerade Entscheidungsarchitekturen angesprochen. Entscheiden ist in der Psychologie die Möglichkeit und Fähigkeit, eine Festlegung auf eine von mehreren Handlungsoptionen zu treffen. Warum Menschen in welcher Situation wie entscheiden, dürfte einer der wichtigsten Fragen der Psychologie überhaupt und von Menschen in Unternehmen im Besonderen sein. Wie schauen Sie aus systemtheoretischer Sicht auf Entscheidungen?

MH: Gemeinhin wird der Akt der Entscheidung einem einzelnen Menschen oder einem Gremium zugewiesen. Die haben entschieden, dass… Die Systemtheorie bringt hier konsequenterweise die Systemebene mit ins Spiel. Das ist aus meiner Sicht deshalb wertvoll, weil bei genauerer Betrachtung eines Entscheidungsprozesses der Blick allein auf den Entscheider oder die Entscheiderin zu kurz greift. Vielmehr kann man häufig beobachten, wie viele Schritte und Beteiligte schon im Vorwege (implizit) Einfluss genommen haben. Manchmal hat hier keine oder keiner der Beteiligten einen wirklichen Überblick. Wie kam es zur Auswahl eines bestimmten Entscheidungsfokus? Wie wurde das Problem beschrieben? Welche Entscheidungsoptionen hat wer ins Spiel gebracht, welche wurden gar nicht erst in Betracht gezogen, wodurch wurden welche Optionen favorisiert etc. Der Weg bis zur Entscheidungsvorlage kann lang — und sehr relevant — sein.

JB: Entscheidung und Verantwortung gehören für mich zusammen. Wenn ich höre, wie Sie Entscheidungen jeweils als Ergebnis von Prozessen mit vielen Beteiligten sehen, frage ich mich, ob damit Verantwortung diffundiert. Das hielte ich in meinem Weltbild für einen Managementfehler. Für mich müssen sich Entscheiderinnen und Entscheider um all die von Ihnen angeführten Punkte kümmern und genau im Bewusstsein der Gemengelage entscheiden. Was ist Verantwortung in der Systemtheorie? Wie entsteht sie? Wer trägt sie wofür?

MH: Luhmann als ein wichtiger Vertreter der Systemtheorie unterscheidet zwei Begriffe: „Verantwortung“ und „Verantwortlichkeit“. Demnach kann ich verantwortlich sein für mein Handeln oder für die Entwicklung einer Lösung, muss jedoch nicht die oder derjenige sein, die oder der dafür adressierbar gemacht wird, wenn etwas schiefläuft. Dafür verwendet Luhmann den Begriff der Verantwortlichkeit. Verantwortlichkeit geht mit Entscheidungsbefugnissen und der organisationsinternen Adressierbarkeit im Falle von Problemen einher. Von daher teile ich Ihre Sichtweise: Entscheidung und – nach Luhmann – Verantwortlichkeit müssen zusammen betrachtet werden.

Der systemtheoretische Blick auf Entscheidungsprozesse hat daher nichts mit Verantwortungsdiffusion zu tun. Eine einzelne Rollenträgerin oder ein einzelner Rollenträger kann im Sinne der Verantwortlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden. Die Adressierbarkeit, wenn etwas schiefläuft, ist jedoch die eine Sache. Was macht dieser Mensch dann? Was bedeutet das gegebenenfalls für die Organisation? Die vorhin beschriebene Komplexität von Entscheidungsprozessen ist faktisch vorhanden und kann nicht geleugnet werden. Was Sie mit „kümmern“ beschreiben, klingt für mich nach einer Kontrollfantasie, wonach eine Super-Managerin oder ein Super-Manager all das berücksichtigen und beeinflussen könnte. Das ist jedoch aus meiner Sicht in sehr vielen Fällen nicht möglich. Sie oder er hat nicht die Kontrolle über den kompletten Entscheidungsprozess und gegebenenfalls auch nicht alle relevanten Informationen, welche niedergeschriebenen oder informellen Prämissen den Entscheidungsprozess beeinflusst haben oder was wann mit wem wo besprochen, ausgeschlossen oder fokussiert wurde.

Hat jemand die Verantwortlichkeit, dann hilft ihr oder ihm ein systemtheoretisches Instrumentarium, mögliche hintergründige Probleme auf Systemebene zu identifizieren. Ich würde daher sogar soweit gehen zu sagen, dass ein solches systemtheoretisches Instrument überhaupt erst den Umgang mit der Verantwortlichkeit ermöglicht. Sonst bin ich nur derjenige, der zur Rechenschaft gezogen wird, ohne weitere Analyse- und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Das fühlt sich meist nicht gut an. Und um ein mögliches Missverständnis zu vermeiden: Es kann natürlich möglich sein, dass parallel zur Systemebene auch Themen auf der persönlichen Ebene der Rollenträger oder der Rollenträgerin existieren.

JB: Wir gründen Unternehmen (als Unterkategorie von Organisationen), weil wir Ideen, Interessen und Ziele haben, die wir besser als Gruppe verfolgen können denn als Einzelkämpferin oder Einzelkämpfer. Sie haben das gerade unter Zweck gefasst. Ich würde Ihre Aussage, dass mit einer Organisation mehr entsteht als nur eine Addition von Individuen, voll und ganz unterstreichen. Dass wir Kollaborationen mit anderen suchen, ist tief in uns verwurzelt und nicht nur auf uns Menschen beschränkt.

Da wir das Verhalten in Organisationen von Kindesbeinen an lernen, geht uns ja in Fleisch und Blut über. Brauchen wir außer einer guten traditionellen Managementausbildung und Intuition immer auch die Systemtheorie, um bessere Managerinnen und Manager zu sein?

MH: Wenn Sie „besser“ im Sinne von bedachter und dadurch wirksamer meinen, dann lautet meine Antwort ganz eindeutig: Ja! Es braucht innere Orientierung für das Agieren in der praktischen Komplexität. Daher halte ich — neben Bordmitteln aus der Psychologie und BWL — systemtheoretisch abgeleitete Modelle und Instrumente für ein wichtiges Handwerkszeug für alle, die in Organisationen gestaltend und führend unterwegs sind.

JB: Das bringt uns zur aus meiner Sicht letzten Frage in unserem Gespräch, mit der ich unsere Beleuchtung der Führungsaufgabe abschließen wollen würde. Sie betrifft den gerade angesprochenen Begriff der Komplexität, die gefühlt auch für Managerinnen und Manager immer größer wird. Nach meiner Beobachtung gibt es Personen, die diese Komplexität ignorieren, pragmatisch an alles herangehen und damit Erfolg haben. Andere teilen Organisation und Prozesse in so kleine Einheiten, dass die Komplexität beherrschbar bleibt. Oder Entscheider und Entscheiderinnen arbeiten in unübersichtlichen Situationen mit Heuristiken, das heißt mit Daumenregeln. Wir Menschen scheinen insgesamt komplexitätskompetenter zu werden. Stimmt mein Eindruck, dass Systemtheorie vor allem dafür erfunden wurde, um Komplexität in sozialen Systemen zu beherrschen?

MH: Systemtheoretisch abgeleitete Modelle und Instrumente bieten Handlungsorientierung in komplexen Kontexten, ja. Daraus abgeleitete Landkarten für die Praxis verschaffen sehr viel mehr Wirksamkeit im Handeln, da sie eine höhere Passung zur Realität der Organisation besitzen als etwa mechanistisch geprägte Denkweisen und Modelle.

Bei Organisationen haben wir es mit lebenden Systemen zu tun, die eine Eigendynamik besitzen, und deren Elemente wechselseitig aufeinander wirken. Die Änderung eines Elements wirkt innerhalb des komplexen Netzwerks auf andere Elemente, die dann wiederum selbst auf Elemente wirken usw. Dies ist ein Merkmal komplexer Systeme.

Dies ist auch der Grund, weshalb es nicht die eine, richtige Antwort und Blaupause für Organisationslösungen geben kann. Es braucht maßgeschneiderte Lösungen, deren Einführung beobachtet und geführt werden muss – aufgrund der vielen Wechselwirkungsbeziehungen. Änderungen an der Organisation werden darüber hinaus immer in einer gewachsenen Organisation eingeführt. Organisations-Frameworks können Ideen für Lösungen geben. Wenn jedoch die Methode und nicht die spezifischen Notwendigkeiten und Ausgangsbedingungen im Vordergrund stehen, kann es für alle sehr nervenaufreibend werden.

JB: Sie haben mir – und hoffentlich den Leserinnen und Lesern – sehr dabei geholfen, das Konzept des systemtheoretisch fundierten Managens besser zu verstehen. Durch alle ihre Aussagen zieht sich die Idee der Organisation als ein einzigartiges Miteinander von Menschen. Diesen Blick auf Unternehmen teilen wir und er scheint mir für erfolgreiches Management kaum überbewertet werden zu können. Wer als Entscheiderin oder als Entscheider gewillt ist, mit diesem Mindset an die Arbeit zu gehen, hat mit der systemischen Brille auf jeden Fall ein Werkzeug, das dabei helfen kann. Vielen Dank für diesen Einblick ins systemische Denken für Managerinnen und Manager.

An unsere Leserinnen und Leser: Wer uns zu den Inhalten dieses Gedankenaustausches ansprechen will, die oder der kann das unter matthias.hintz@meroo.de oder jb@the-human-side-of-business.com tun.

Das Interview “Wirkungsvoller managen mit Systemtheorie” gibt es hier zum Download als PDF.