Rezension: “AI Superpowers, Lee (2018)

Lee, Kai-Fu (2018) AI Superpowers. China, Silicon Valley, and the New World Order. Houghton Mifflin Harcourt.

Von Josef G. Böck für The Human Side of Business GmbH

Zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buchs war der Autor Kai-Fu Lee etwa Mitte fünfzig. Das ist deshalb von Bedeutung, weil damit der Erfahrungshintergrund plausibel wird, dem seine Einsichten und Thesen zugrunde liegen. Lee hat Jahrzehnte in China und USA gelebt und gearbeitet. Er war etwa 30 Jahre mit der Entwicklung und Forschung rund um Artificial Intelligence unter anderen bei Google, Microsoft und Apple beschäftigt. Für sein Thema ist Lee also eine absolute Autorität. Dies zeigt sich auch in den Einladungen zu Vorträgen bei renommierten Veranstaltungen, die leicht über Youtube zugänglich sind.

Lee stellt in den ersten vier Kapiteln des Buches dar, mit welchem Mindset chinesische Politiker, Unternehmer, Entwickler und Venture-Kapitalgeber ans Thema AI herangehen und welche Power dahintersteckt. Immer wieder vergleicht er seine Beobachtungen mit dem, was er aus den USA und dort vor allem aus dem Silicon Valley kennt. Nach seiner Überzeugung werden chinesische AI Entwickler mit ihren Unternehmen die Amerikaner bis 2030 auf breiter Front überflügelt haben (S. 4). Die Gründe liegen zum einen in der schieren Masse der Experten, die in China heranwachsen und zum anderen in der Mentalität der Chinesen, die wie selbstverständlich ihre Daten für Bequemlichkeit tauschen. Daten sind für Lee die zentrale Ressource für die erfolgreiche Entwicklung von AI. Wer wie ich das chinesische Mindset nur aus den Medien kennt, der wird Lees Tour d’horizon durch die chinesische Unternehmenswelt richtig spannend finden. Wer bei uns noch der Meinung anhängt, in China würden nur die Erfindungen aus dem Westen kopiert, der wird eindrucksvoll eines anderen belehrt. Als westlicher Unternehmer hätte ich gerne mehr über das chinesische Steuer- und Rechtssystem erfahren, um die Bedingungen für Unternehmertum und Innovation noch besser einschätzen und mit unserem Wirtschaftraum vergleichen zu können.

Nach diesen spannenden Kapiteln erklärt Lee den Lesern in zwei Kapiteln die wichtigsten Techniken, die mit AI verbunden sind und wie diese sich seiner Meinung nach auf die Arbeitswelt auswirken werden. Ihn treibt die Sorge, dass viele Menschen in allen Teilen der Welt nicht mehr gebraucht werden, weil Algorithmen ihre Arbeit erledigen. Seine Überlegungen untermauert er mit Statistiken aus den amerikanischen und chinesischen Volkswirtschaften. Auf der Basis aktueller Trends sagt er voraus, dass um 2035 herum in den USA etwa 40 – 50 Prozent der Jobs durch AI-Technologie ersetzt werden könnten. Ob dies volks- und betriebswirtschaftlich sinnvoll sein wird, steht auf einem anderen Blatt.

Lee unterteilt AI in vier Entwicklungsphasen. Die ersten beiden Wellen sind für ihn Internet AI und Business AI. In der ersten Phase entstanden alle von den Tech-Giganten erfundenen Algorithmen, die seit etwa dem Jahr 2000 Daten über Internetuser sammeln und diese für Empfehlungen für ihre Nutzer verwenden. Business AI nutzt für Lee die vielen Daten, die in Unternehmen vorhanden sind, und führt die Entscheider zu neuen Einsichten über ihre Produkte, Prozesse und ihren Markt. Business AI mache Unternehmen effizienter (S. 111). Die dritte Welle nennt er Perceptional AI, also die Wahrnehmung der Umwelt durch entsprechende Devices für Bild, Ton, Bewegung und andere sinnlich erfahrbare Phänomene der realen Welt. Die vierte Welle schließlich nennt er Autonomous AI, worunter für ihn Roboter und Algorithmen fallen, die selbständig Aufgaben erledigen und Entscheidungen treffen können. Natürlich setzt dieses Gebiet der AI die technischen Fähigkeiten und die durch sie entstehen Daten der anderen Phasen voraus. Für Lee sind die Ergebnisse aller Entwicklungs- und Anwendungsgebiete inzwischen so weit, dass es aktuell hauptsächlich um die Implementierung der Techniken geht. Es werde bei der Umsetzung in die Praxis zwar noch zu Überraschungen und Problemen kommen, deren Lösung ist für Lee aber normale Ingenieursarbeit und keine Geniestreiche mehr. Angesichts der vielen zweifelhaften Ergebnisse, die AI auf vielen Gebieten noch liefert, muss diese Einschätzung überraschen. Sie zeugt aber vom Selbstverständnis der AI Szene.

In den letzten drei Kapiteln entwirft Lee ein Bild, wie vor allem die politisch Verantwortlichen in aller Welt mit den Folgen der AI-Revolution umgehen können. Weiterbildung der Menschen, höhere Steuern für die Profiteure der Anwendung von AI und bedingungsloses Grundeinkommen sind einige der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen, damit Menschen mit AI auf fruchtbare Weise koexistieren können. In so einer Koexistenz sieht er die Lösung für die Zukunft der Menschheit. Da es der Markt allein nicht regeln können wird, müssen sich die Politiker darum kümmern.

Eine These, die sich durch Lees ganzes Buch zieht, verdient eine besondere Herausstellung. Er beobachtet viele Gründer nach dem Vorbild der Techgiganten im Silicon Valley, die rein digitale Geschäftsmodelle schaffen, die also mit all ihren Aktivitäten in der digitalen Welt bleiben. Chinesische Digitalunternehmen würde dagegen wo immer möglich eine Strategie anwenden, die er Online-to-Offline (O2O) oder Online-Moves-Offline (OMO) nennt. Darunter versteht er, dass Unternehmen sowohl in digitale Werkzeuge investieren und auch über die dazugehörigen analogen Ressourcen verfügen wollen, um ein komplettes Leistungspaket unter der eigenen Kontrolle zu haben. Während Uber „nur“ die Fahrer und ihre Autos als Ressourcen managed, besitzen chinesische Unternehmen auch die Autos. Lieferdienste betreiben auch die Restaurants, deren Essen sie liefern. Lee führt überzeugend aus, dass rein digitale Geschäftsmodelle mit überschaubarem Aufwand zu kopieren sind. OMO Geschäftsmodelle dagegen bedürfen eines mutigen Entwurfs, gewaltiger Investitionen und damit eines längeren Atems. Wenn so gepolte Unternehmer es gut machen, erringen sie Monopole und damit sind die Geschäftsmodelle nicht mehr mit einem sinnvollen Aufwand zu kopieren.

Lees Vergleich der chinesischen und amerikanischen Herangehensweise an Digitalisierung im Allgemeinen und AI im Besonderen führt zu hilfreichen Einsichten für Manager und Unternehmer überall in der Welt. Lees Bücher sind sicher auch deshalb immer wieder Bestseller. Als europäisch geprägter Leser hätte ich mir gewünscht, dass er beispielsweise die mit fortschreitender Digitalisierung wachsende Gefahr für Cyberkriminalität und Cyberkonflikte kommentiert und seine Einschätzung für dieses Problem skizziert. Angreifer sind bisher den Anwendern digitaler Systeme immer mindestens einen Schritt voraus und sind damit eine Riesengefahr für unsere Sicherheit und unser wirtschaftliches Wohlergehen. AI wird dieses Problem nicht lösen. Ganz im Gegenteil.

Eine andere wichtige Frage ist die nach dem Ressourcenverbrauch digitaler Technologie. Die Rechenzentren der großen Technologieunternehmen verändern schon jetzt in ihren Standorten das Klima und der Strombedarf ist so gewaltig, dass er ein wichtiger Faktor bei der Priorisierung der Handlungsfelder bei der Energiewende sein wird. Darauf geht Lee in seinen Ausführungen nicht ein.

Der Energieverbrauch digitaler Technik hat auch mit den Datenmengen zu tun, die sie produziert. Für Lee sind möglichst viele Daten der Schlüssel zum Unternehmenserfolg, weil sie Entscheidungen und Produkte besser machen. Nach meiner Überzeugung überschätzt er wie viele AI Experten die Bedeutung von Daten für den unternehmerischen Alltag. Zwar sammeln wir alle lieber mehr Daten als weniger, aber unternehmerische Entscheidungen werden nicht zwangsweise besser, wenn wir nicht mehr fünf Kennzahlen heranziehen sondern fünfzig. Wenn es nach Lee geht, versetzt uns AI in die Lage, mit 200 Kennzahlen zu arbeiten. Voller Stolz führt er diese Entwicklung am Beispiel einer seiner Startups vor, die die Kreditwürdigkeitsprüfung von Menschen auf ganz neue Datenbeine stellen wollen. Ob uns das zu besseren Entscheidern in unserem unternehmerischen Alltag macht?

Auch wenn Lee mit seinem Buch einige wichtigen Fragen nicht beantwortet – es ist ein hoch interessantes und hilfreiches Buch für Unternehmer und Manager mit Interesse an AI, die wissen wollen, wie in anderen Wirtschaftsräumen über das Thema gedacht wird und was davon ihren eigenen Markt verändern wird

Die PDF-Version der Rezension Lee 2018 können Sie über diesen Link herunterladen.