#Reflection 3: Narrative in Unternehmen

Längst haben Narrative auch einen bedeutenden Platz in der Welt der Wirtschaft, nicht nur in deren Sprache, sondern auch in Erklärungsversuchen für undurchschaubare, nicht belegbare, von nüchternen Beobachtern gefürchtete Prozesse, die weitaus mächtiger sind als angenommen. Nobelpreisträger Robert J. Shiller gibt uns mit Narrative Economics (2019) einen erhellenden Einblick in die Zusammenhänge von Geschichten und Wirtschaft.

Warum sollten sich Unternehmer mit Narrativen beschäftigen?

Die Gründung einer Firma beginnt mit einer Vision, die Ursprungsidee erhält das Kostüm einer Erzählung, die die Berechtigung des neuen Unternehmens untermauert. Ob Wirtschaftlichkeit dabei immer die oberste Priorität hat, sei angezweifelt – entscheidend wird immer sein, wer und wie viele Entscheider überzeugt werden müssen. Diese Ursprungsgeschichte sagt viel aus über die Gründerin/den Gründer, die Geschichte verrät seinen Bezugsrahmen, seine Umgebung, sein Umfeld, seine Kultur und die gesellschaftlichen Systeme, in die sie oder er verwoben ist.
Von außen betrachtet, könnte das Unternehmen ein Haus sein, ein Schiff oder auch ein Platz wie eine Agora, lebendig wird es durch die Beziehungen zwischen allen Beteiligten und deren Kultur. Eine identitätsstiftende Firmenkultur aufzubauen, braucht eine Metapher, eine Erzählung, ein Narrativ, um ohne Umwege, um ohne umständliche zeitraubende Erklärungen sich bei Shareholdern und Stakeholdern einzubrennen. Wichtig sind die Veränderungsprozesse, die ebenfalls im Firmen-Narrativ auftauchen.
Wenn Mitarbeiter und Aktionäre zu Mit-Erzählenden werden sollen, muss das Bild „ins Herz“ treffen und das tut es nur, wenn Bilder anknüpfen an schon Bekanntes.
Deshalb lohnt es sich, das Ursprungs-Narrativ der Firma zu kennen, um es entweder weiterzuspinnen oder auch umzulenken – jedoch nie ohne anzuknüpfen. Geschäftsführer werden andere Fäden weben als Mitarbeiter; ob die Geschichte eine andere Dynamik erhält oder andere Protagonisten, hängt von aktiven strategischen Impulsgebern ab, von denen, die die einzelne Geschichte als Teil einer Serie sehen oder einer größeren Meta-Erzählung. Mitarbeiter werden eher reagieren auf Prozesse, ob aktiv oder passiv, konstruktiv oder zerstörend vergleichbar zum Beispiel mit dem Beziehungsgeflecht der Darsteller eines Theaterstückes mit ebenso dramaturgisch teilweise unkalkulierbaren Entwicklungen.
Auch wenn Transformationsprozesse neue Narrative fordern, ist es wünschenswert, sich die alten anzuschauen und eventuell nur das Kostüm zu wechseln, die Dramaturgie der Geschichte aber zu lassen.
Unternehmer*innen sollen und wollen überzeugen. Sie sind hervorragende Strategen, Psychologen und Spieler, und vor allem eins: Visionäre. Das menschliche Gehirn ist mit der Fähigkeit zur Imagination ausgestattet und kann in Zeitdimensionen denken. Unternehmer *innen gestalten ihre Narrative daher zukunftsorientiert, nicht jedoch ohne die Ursprungsgeschichte zu vergessen. Das Gedächtnis ist faul, es bedient sich zunächst immer der Bilder, die es schon kennt. Im Hinblick auf Identitätsmodelle bedeutet dies, die Wirkung von bereits bekannten Metaphern nicht zu unterschätzen. Sie weiterzuentwickeln wie ein mäanderndes Familienportrait und das Narrativ gezielt bei Vorstandsgesprächen ebenso wie bei Mitarbeiterrunden einzusetzen, kostet weit weniger Kraft, Geld und Zeit als aufwendige Marketingprofile und erzielt einen weitaus einprägsameren Effekt.

Anknüpfend an Shiller stellen sich grundsätzliche Fragen an die Bewusstheit unseres Verhaltens und wie wir selbst Einfluss nehmen können mit der Auswahl von Narrativen. An dieser Stelle soll ein kurzer Blick auf Definition und Etymologie geworfen werden. Narrativ aus dem Lateinischen bedeutet erzählend. Das Narrativ kann eine Geschichte, aber auch ein Thema, sogar eine größere komplexe Problematik darstellen. Entscheidend ist nicht nur die Perspektive desjenigen, der ein Narrativ anwendet, sondern auch die Umgebung, in der er das jeweilige Thema in eine Geschichte verpackt.
Ein Beispiel. Wer heute in einer Kulturorganisation zu Hause ist, wird von Rhizomen sprechen, ein Wurzelwerk, das unter- und oberirdisch sich verflechtend weiterwächst und neue Triebe schafft. Auf die internationale digitalisierte und crossmedia fokussierte Kulturbühne bezogen, vermittelt sich ein überaus positives Bild eines sich verzweigenden aber auch aus sich heraus entwickelnden Prozesses. Würde ich dasselbe Bild und auch Modell von Transkulturalität auf Kliniken anwenden, wäre wahrscheinlich eine andere Wirkung vorhersehbar. Das Bild von mutierenden Viren würde sich geradezu aufdrängen. Dasselbe Bild auf Unternehmen angewandt würde schockieren, weil Betriebswirtschaftler mit wild wuchernden Organismen Unterwanderung und Steuerungs- und Machtverlust verbinden.
Verschwörungstheorien hatten nie eine Pause, haben heute jedoch Hochkonjunktur. Das Corona-Virus verbreitet sich weltweit in einer Geschwindigkeit, die nur mühsam zu drosseln ist. Es hätte auch eine andere Krankheit oder ein Unfall sein können. Was haben das Virus und das Narrativ gemeinsam? Die unkontrollierbare Art der Verbreitung. Das Virus kennt keine Grenzkontrollen und ist immun gegen Propaganda. Das Narrativ kann sich ebenso unkalkulierbar weiterentwickeln in unerwünschte Richtungen, wenn es in seiner Wirkung unterschätzt und von zerstörerischen Figuren strategisch benutzt wird.
Einer, der narrt, einer der ein Narrativ benutzt, einer, der närrisch ist, einer der in Narrativen denkt, bedeutet jeweils etwas völlig Anderes. Und doch haben sie alle etwas gemeinsam: ein Gefühl in Handlung mit Kostüm umzusetzen.
Für Unternehmer*innen bedeutet dies, jede Handlung, vor allem jeden Fehler in die Geschichte zu integrieren. Wir haben in der westlichen Hemisphäre keine Kultur des Scheiterns, obwohl es unzweifelhaft eine Tatsache ist, nur aus Fehlern zu lernen und zu wachsen. Würden die Geschäftsführer*innen ihren Mitarbeiter*innen ihre Handlungen in einer zusammenhängenden Geschichte erklären, stünde nicht das Gefühl des Versagens im Vordergrund, sondern eher die Aufforderung neue Entscheidungen zu treffen, quasi dem Narrativ eine dramaturgische Variante zu geben.