Rezension: “Das kollegial geführte Unternehmen”, Oestereich / Schröder (2017)

Oestereich, Bernd / Schröder, Claudia (2017) Das kollegial geführte Unternehmen. Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. München: Vahlen.

 

Ich habe die Empfehlung für dieses Buch von einem Vorstandskollegen bekommen, der seine Organisation in Richtung kollegiale Führung weiterentwickelt. Er meint, um zu verstehen, was er in seinem Unternehmen gerade angestoßen habe, sollte ich die Ideen von Bernd Oestereich und Claudia Schröder kennen. Um die Quintessenz meines Leseergebnisses vorwegzunehmen: er hat Recht.

Das Buch ist eine Mischung aus Darstellung eines Führungskonzepts und einem Ratgeber, wie man es im eigenen Unternehmen umsetzen kann. Die Autoren bezeichnen ihre Publikation als „Werk-statt“. „Kollegiale Führung“ ist für die beiden „die auf viele Kollegen und Kolleginnen dynamisch und dezentral verteilte Führungsarbeit anstelle von zentralisierter Führung durch einige exklusive Führungskräfte“ (S. VI). Kollegiale Führung ist demnach kein hierarchieloses System, sondern bedeutet, dass Hierarchien und damit Zentralen dem jeweiligen inhaltlichen Bedarf und den geschäftlichen Problemen folgen und sinnvollen quer laufenden Kooperationsbeziehungen nicht im Wege stehen (S. 48).

Oestereich und Schröder haben ihre Werkstatt in vier große Teile gegliedert: eine Einleitung, eine Darstellung der Strukturen und des Rahmens kollegialen Führens, eine Erläuterung der Prozesse, Werkzeuge und Fertigkeiten und schließlich in ein Kapitel zu „Denken, Unterscheidungen und Begriffen“. Nach der Lektüre würde ich den Inhalt in „Begründung des Ansatzes“, „Inhalt und Einführung kollegialer Führung in Unternehmen“ und „Überblick über ausgewählte Management-Konzepte mit Affinität zum Thema“ gliedern. Der dritte Teil nimmt fast die Hälfte des ca. 300 Seiten umfassenden Buches ein.

Die Grundthese von Oestereich und Schröder ist, dass Unternehmen die komplexen Anforderungen ihrer Kunden nicht mehr innerhalb hierarchischer Organisationen, sondern durch flexible, selbstgesteuerte kleine Einheiten erfüllen müssen. Im Gegensatz zu klassischen Hierarchien haben in so einem Netzwerk aus Teams (Kreisen) nicht mehr dezidierte Vorgesetzte und Stabsstellen das Sagen, sondern die Macht wandert zu den Einheiten, die die Leistungen des Unternehmens zu den Kunden tragen. Da sie wegen ihres intensiven Kontaktes die Anforderungen ihrer Kunden am besten kennen, können sie Kundenprobleme am schnells-ten und mit höchster Kompetenz lösen. Alle nicht direkt mit Wertschöpfung für Kunden befassten Rollen in den Unternehmen werden als interne Dienstleister ebenfalls in Teams zusammengefasst. Übergeordnet sind diese zentralen Dienste den Kundenteams aber nicht. Mit so einer Struktur würden – so die These der Verfechter dieses Ansatzes – alle im Unternehmen agiler. Das Ergebnis dieser Aufstellung wäre dann ein komplexes System, das auf die Komplexität des Marktes dynamikrobust reagieren kann. So zugespitzt ist erkennbar, dass sie mit dieser Idee nicht allein unterwegs sind (Soziokratie, Holokratie, Netzwer-korganisation). Welche vielen Väter ihr Ansatz hat (ich habe in der Auflistung nur Männernamen gesehen), versuchen die Autoren selbst grafisch darzustellen (S. 83) und für Interessierte öffentlich zugänglich zu machen (http://kollegiale-fuehrung.de/einflüsse/). Das ist eine tolle Zusammenstellung von systemischen Denkern zwischen Niklas Luhmann bis Fritz B. Simon – um zwei prominente Namen zu nennen -, die zur vertiefenden Beschäftigung mit dieser Denkrichtung einlädt.

Gleichzeitig wird deutlich, wie tendenziös die Auswahl der Quellen ist. Wichtige Mainstream-Managementdenker, Philosophen, Evolutionsbiologen und Neuropsychologen fehlen. Bei denen hätten die Autoren nachlesen können, dass manche ihrer Thesen in diesem Buch weder unumstritten noch alternativlos, aber ganz sicher komplexer sind, als sie die Autoren gerne hätten. Auf der anderen Seite würde klar, dass einige wesentliche Ideen, die im Buch als neu und mit „traditioneller“ Managementpraxis unvereinbar gesehen werden, seit langem diskutiert werden. Dazu gehört unter anderen eine zentrale These des Buchs, nämlich dass Entscheidungen dort getroffen werden sollten, wo die höchste Fachkompetenz liegt – also zum Beispiel bei den Teams, die direkt mit Kunden zu tun haben. Diese Idee kennen alle Peter F. Drucker-Ausgebildete seit den 1950er Jahren.

Die Verfasser stellen die einzelnen Komponenten einer Organisation mit kollegialer Führung überzeugend und verständlich dar. Der Weg zur Transformation eines bestehenden, hierarchisch organisierten Unternehmens in die neue Organisationsform aus Kreisen wird umfassend und nachvollziehbar beschrieben. Die Verweise auf Erfahrungen aus der Praxis verleihen den Empfehlungen und methodischen Ansätzen Überzeugungskraft. Wer diese sehr praktischen Kapitel durchgearbeitet hat, kann sich gut vorstellen, wie Organisationen aussehen, die dieses Konzept umsetzen. Wer das nicht ohne externe Berater schafft, dem Bieten sich die Autoren als Berater an – sicher eine der legitimen Motivationen zur Verfassung des Buches.

Oestereich und Schröder verwenden viel Raum dafür, den Aufwand zu beschreiben, der mit der Implementierung und Aufrechterhaltung einer solchen dezentralen Organisationsform verbunden ist. Eine Abwägung, wie dieser Aufwand im Verhältnis zu modern geführten hierarchischen Unternehmen ausfällt, gibt es genauso wenig wie eine ROI-Rechnung der vorgeschlagenen Organisationsform. Dafür fehlt sicher auch eine Datenbasis, die sich auf genügend Beispiele stützen kann. Was an manchen Stellen durchscheint, ist, dass die Art und Weise, wie unser Rechtssystem auf Unternehmen blickt, bei so einer Organisationsform immer mit bedacht werden muss – schließlich suchen Behörden und Geschädigte im Moment von Verfehlungen oder Fehlentwicklungen in einem Unternehmen immer nach Verantwortlichen. Auch über die Reaktion von D&O (Directors-and-Officers)-Versicherungen auf so eine Struktur würde ich gerne in der nächsten Überarbeitungsstufe des Buches mehr lesen.

Aufmachung, Grafiken und Layout des Buches sind attraktiv, die einzelnen Abschnitte übersichtlich und kompakt. Dies entspringt der Intention der Autoren, dass man das Buch nicht konsequent von vorne nach hinten lesen muss, sondern zwischen den Kapiteln springen können soll. Das wird auch durch die vielen Querverweise im Buch auf andere Ab-schnitte und Seiten deutlich, die im analogen Medium die Fähigkeiten von Hypertext-Strukturen erfolgreich imitieren.

In der Einleitung zum Buch (S. VIII) schreiben die Verfasser, sie seien mit dem aktuellen Stand noch lange nicht zufrieden und das Buch sei ein erster Beitrag zum Thema. Das ist wohl eine realistische Einschätzung zum Entwicklungs- und Darstellungsstand der Idee.
Für die weitere Arbeit würde ich mir wünschen, dass die Autoren ihr Sendungsbewusstsein etwas zurücknehmen und Leser nicht vor den Kopf stoßen, die erfolgreich in einer anderen Welt der Führung unterwegs sind. Dem Leser suggerieren sie die Idee des kollegial geführten Unternehmens als praktisch alternativlos. Für sie ist sie die letzte Phase einer historisch zwingenden Entwicklung (S. 17). Dies führt im unschönen Nebeneffekt zu einer Abwertung anderer Denk- und Führungssysteme. So meinen sie, Führung sei zu wichtig, um sie nur Führungskräften zu überlassen (S. VI). Der BWL unterstellen sie ein Denken, das keinen Platz für die Organisation moderner Wertschöpfungsbetrachtungen hätte (S. 299) und „traditionelle“ Führungsstrukturen halten sie für absolut ungeeignet, mit den aktuellen Problemen der aktuellen Dynamik des Marktes fertig zu werden (S. 20). Da regt sich bei mir als Leser durch Empirie genährter Widerstand. Diese legt nahe, dass zwar immer wieder neue Managementmethoden erdacht werden, dass diese neuen Ideen aber keine zwingende zielgerichtet Gesamtentwicklung erkennen lassen, und dass sie vor allem die vorhandenen nie komplett verdrängen konnten. Daran wird auch die Idee der kollegialen Führung nichts ändern. Sollten die Seitenhiebe auf andere Managementan-sätze humorvoll gemeint sein, dann haben sie meinen Sinn für Humor nicht getroffen.

Mein zweiter Wunsch wäre, eine Einordnung der Umsetzbarkeit der Idee nach Branchen, Geschäftsmodellen, Alter bzw. Stabilität und Digitalisierungsgrad der Unternehmen vorzunehmen. Herr Oestereich hat ein IT-Unternehmen gegründet, geführt und an seine Mitarbeiter verkauft. Da er damit erfolgreich war, hat ihn diese persönliche Erfahrung vom Nachdenken darüber abgelenkt, wie die Art, wie wir über die Welt und über Organisationen denken, etwas mit unseren Prägungen, Vorlieben, unserer Ausbildung und in seinem Fall mit seiner wissenschaftlichen Herangehensweise an Probleme zu tun haben könnte. Die Gründer von Amazon, Tesla, Facebook, Uber und Google sind teilweise sehr ähnlich gestartet. Trotz gegenteiliger Ambitionen führen sie inzwischen höchst hierarchisch und zentralistisch.

Die unternehmerische Erfahrung lehrt, dass es unendlich viele Wege zum Erfolg gibt. Erfolg wiederum wird von Unternehmern höchst unterschiedlich definiert. Die Erfahrung lehrt auch, dass es keine Führungskultur gibt, für die sich nicht immer Follower und Kunden finden lassen, wenn beispielsweise die Produkte attraktiv sind. Unternehmen sind deshalb so unterschiedlich wie ihre Gründer und die Menschen, die in ihnen arbeiten. Weil dem so ist, lohnt sich die intensive Beschäftigung mit der Führungsidee dieses Buches. Auch für Unternehmer und Manager, die meinen, genau das Gegenteil sei richtig.

Die PDF-Version der Rezension Oestereich-Schröder 2017 Kollegiale Führung können Sie über diesen Link herunterladen.